Vulgären Auflagen entkommen

Ein Problem lösen, einen Vertrag unterzeichnen, eine Aufführung einladen, ein Kind kriegen, einen Kuchen backen, wieder ein Problem lösen – immer wieder habe ich die gleiche Empfindung: das ist das attraktivste Problem, der großzügigste Vertrag, die wichtigste Show, das eigenwilligste Kind, der beste Kuchen, das verdammt intelligenteste Problem.

Ich bin verliebt in meine Gegenwart. Ich glaube, wenn das nicht so wäre, wüsste ich morgens gar nicht wie und wo ich anfangen sollte. Zur Zeit habe ich den Tunnelblick, alles in mir konzentriert sich auf die Volksbühne. Natürlich ist es das großartigste Theater, hat die wichtigsten Revolutionsmomente, den schönsten Rundhorizont, eine kapitale Leere auf dem Vorplatz. Das klingt naiv, aber die Dinge haben mir ein Erkenntnisprinzip auferlegt, dass inzwischen mein Leben bestimmt. Auf das was da ist reagieren und dabei versuchen, den vulgären Auflagen der Wirklichkeit zu entkommen.

Wenn ich bemerke, dass bestimmte Gedanken und Überlegungen nicht verschwinden, wenn es Resonanzen dafür gibt, Gesprächspartner oder Bühnen, erst dann weiß ich, dass sie wichtig sind. Manchmal teste ich das in Gesprächen aus. Wenn ich spüre, dass ein Gedanke unbemerkt vorübergeht und das immer wieder passiert, dann ist es vielleicht nur eine private Passion, eine isolierte Begeisterung. Es gibt einen Satz aus einem Spiegel-Essay von Ulrich Beck. Es geht um die machtvollen Unsicherheiten der Weltgesellschaft und er entwickelt einen neuen kosmopolitischen Imperativ: „Kooperieren oder Scheitern, zusammen gewinnen oder einzeln verlieren“. Wir arbeiten viel zu konkurenziell und so häufig gegeneinander anstatt komplizenhaft und solidarisch umzugehen mit Problemen, Situationen und Ausnahmezuständen, deren Unkontrollierbarkeit uns alle, auch Theater und Festivals, betrifft. Ich riss die Seite aus dem Heft und legte sie auf den Stapel für Formulierungen, die mich überzeugten. Ende Dezember letzten Jahres begannen Chris Dercon und ich über die Volksbühne nachzudenken. Kurz darauf, am 1. Januar starb Ulrich Beck und mir kam sein emphatischer Imperativ wieder in den Sinn. Ein schönes Vermächtnis. Es wurde dann zu einem der Leitmotive unserer Überlegungen für die Zukunft der Volksbühne. Nach der Pressekonferenz kam der Satz vielfach wie ein Echo zurück. Offenbar hatten wir etwas berührt, das wir versuchsweise, einem Zufall oder einem Moment geschuldet, formuliert hatten.

Ich habe häufig ein sehr klares, inneres Bild von den Dingen. Ich wäre nicht imstande, es in Begriffe zu fassen, es kann manchmal Jahre dauern, bis es über Künstler, Räume oder Begegnungen konkret wird. Ich glaube, dass man am Ende ein Programm nur in ein Konzept überführen kann, wenn es den Filter der Imagination, der Vorstellung durchlaufen hat. Zuvor bewegen wir uns auf einem vagen Terrain der Unschärfe, des Überflüssigen und der chaotischen Zufälle. Ich habe nie die Idee, dass ich eine Idee haben sollte. Und das ist vielleicht schon der grundlegende Teil der Geschichte.

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Written by Nele Herzog

Nele Herzog arbeitet seit April bei anschlaege und hat ständig das Bedürfnis Alltagsgeschichten festzuhalten. Sie führt die Interviews.