Fleisch, Blut und physische Präsenz

Ich unterrichte nebenbei an Fachhochschulen. Dabei fällt mir auf, wie unheimlich schwer es geworden ist, vor allem die jüngeren Studenten dahin zu bringen, dass sie selbst Ideen haben. Die sind vollkommen darauf ausgerichtet, dass man ihnen mundgerechte Portionen präsentiert, die sie ohne größeren Kauaufwand schlucken können. Das höchst beglückende Element des Unterrichtens ist, wenn man nach Hause geht und etwas gelernt hat, eine unerwartete Idee präsentiert bekommen hat. Ich bin überzeugt, dass Bildung immer noch ein magisches Moment innewohnen könnte. Doch ist sie heute ganz stark auf die Vermittlung instrumenteller Kompetenzen bedacht: Zeichensysteme oder mathematische Konstrukte über die Wirklichkeit legen können. Politischer Diskurs reduziert Bildung darauf, dass jemand den Leuten anständiges Deutsch beibringt, oder ihre Karriere beschleunigt. Die Erfüllung von Bildung aber ist viel mehr, nämlich dass die Leute selbstständig denken lernen und dadurch entscheidfähig werden. Das geht nicht mit Onlinekursen. Klüger werden, die Sinne schärfen passiert nur in der Auseinandersetzung mit Menschen. Das kann die Maschine nicht und wird auch die Artificial Intelligence nie können. Dazu braucht es in erster Linie beiderseitige Emotionen, Fleisch, Blut und physische Präsenz. Wenn der Computer aus einer Analyse zum Schluss käme, es wäre nötig, dass man jetzt einen neuen Glückspilz in roten Lieferwägen verteilt, dann ist damit noch nichts passiert. Aber wenn ich zum gleichen Schluss käme, bin ich der Erste, der sofort die Energie mobilisieren kann, anzupacken und umzusetzen, oder die Idee als Humbug auf die Seite zu wischen. Überzeugung ist kein mechanischer sondern ein fundamental psychophysischer Prozess, emotional und affektiv. Affekte sind die überhaupt stärksten Impulse, sie fehlen der Maschine, wie intelligent ihre Algorithmen immer sind. Man soll sich nicht täuschen, auch die perfekte Simulation von Humanität, die z.B. der verführerisch feminine Roboter Ava aus dem Film „Ex Machina“ darstellt, ist vollkommen affektfrei.

Der Erfolg der Artificial Intelligence, früher Robotik, beinhaltet, dass die Menschen sich eher auf das Niveau der Roboter begeben und dann verblüfft sind, wie sie mit ihren Robotern kommunizieren können. Künstliche Intelligenz spielt eben nicht auf dem Niveau des menschlichen Geistes, der in einem Körper steckt. Die Erlebnisgesellschaft beruht darauf, dass die Optimierung von Erlebnissen – unser täglich Tun – sehr häufig scheitert. Dass das Erlebte sehr häufig doch nicht so „mega“ (wie mein Sohn sagt) war, wie man es sich gewünscht hätte. In diesem Nichtgelingen der Optimierungsprozesses steckt etwas, was auch für das Verständnis der Differenz zur Artificial Intelligence wichtig ist. Der Mensch als lebendiges Wesen ist jede Minute anders konfiguriert. Es gibt Konstanten, aber auch unendlich viele Variablen, die meine persönliche Konfiguration in Bewegung halten. Menschliche Intelligenz ist flüssig, nicht verdrahtet. Zum Glück, sonst wäre ich nämlich tot. Diese Subjektivität kennt die Artificial Intelligence nicht. Im Film ist Ava nur deshalb klüger, weil ein Drehbuchschreiber sie lenkt.
Nach Hause kommen und meinem Hausroboter sagen, er soll nette Musik à la Schubert auflegen und dann spielt er irgendwelche Streichquartette? Das ist eine Entmündigung, wie auch die selbst fahrenden Autos, an die ich nicht glaube. Ich denke, der Mensch will sich nicht entmündigen lassen, er will selbst am Steuer sitzen. Dass er selbst steuert, ist gerade was ihn ausmacht. Aber je mehr Optionen er hat, je weniger äußere Zwänge ihn umgeben, umso mehr steht er vor einem Rätsel. So viel Zeit, was tun? Bin ich Sänger, Erfinder, Tänzer, Programmierer? Will ich ins Kino oder in den Wald? Existiere ich überhaupt? Diese Ratlosigkeit ist es doch, was unsere Gesellschaft umtreibt. Die meisten füllen sie dann -etwas fade- mit Konsum. Aber sei’s drum, ich bin optimistisch. Die Menschen wehren sich für ihre Haut. Wir werden nicht von Computern übernommen.

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Written by Nele Herzog

Nele Herzog arbeitet seit April bei anschlaege und hat ständig das Bedürfnis Alltagsgeschichten festzuhalten. Sie führt die Interviews.