Irgendetwas Überschießendes

Als ich nach Hamburg zog, habe ich mich wahnsinnig darüber geärgert wie berechnend und berechnet diese Stadt ist. Ich brauchte dringend irgendetwas Überschießendes. Wir haben dann am 04. 04. 1986 um 04 Uhr 04 auf dem Gänsemarkt die erste Stadtperformance gemacht und mit einer Klabauternacht, die Rückkehr des Verbannten und der Verbannten in die Stadt begangen; Bach und Lessing und Heine zurückgeholt, die alle mehr oder weniger aus dieser Kaufmannsstadt vertrieben wurden. Wir hatten den ersten Aufzug der Arbeitslosen, die sich mit Rattenmasken durch die Stadt bewegten und eine Kindergang, die Vorbeikommenden rote Punkte auf die Nasen tupfte. Schon verändern sich die Menschen, die Hälfte der Angestellten der Finanzbehörde hatte eine rote Nase als sie sich uns anschlossen. Ein Freund von mir war nur dafür da, um den Mitgliedern des Wandsbeker-Pankoken-Orchesters Schnaps nachzuschenken, damit sie in der Kälte und ohne Gage weiterspielten. Alle haben umsonst gearbeitet. Das war ein großartiges Experiment, sogar Hamburg ließ sich anstecken von der Freiheit, dem Widerständigen, dem Ausleben der dunklen Seite der Existenz, die Karneval auch immer meint. Es war ein abgeschlossener Versuch, der super aufgegangen ist.

Aber die nicht abgeschlossene Idee, für die ich glühend und chronisch einstehe, ist das bedingungslose Grundeinkommen. Vorläufer dieser finden sich schon bei Thomas Morus in seinem Gesellschaftsentwurf ‚Utopia‘, 1516. Man müsste Menschen ein Auskommen geben, damit sie nicht klauen und morden, sondern etwas Produktives machen, im Moment von Freiheit denken können: Was will ich eigentlich wenn meine Grundbedürfnisse, meine Existenz sicher sind? Ich habe so eine kleine radikale Statistik, wenn ich Zug fahre, oder jemanden nett finde, frage ich: Du, was würdest du machen, wenn du 1000 Euro im Monat sicher hättest? Leute, die abhängig sind, Lohnarbeit machen, die hassen ihren Job so sehr, aber würden ihn niemals aufgeben, weil sie nicht wissen, was sie tun sollten. Dann gibt es viele, die sagen: Ich würde weitermachen, aber eben nur die Hälfte. Im kreativen Feld ist es keine Frage, dass die meisten sagen, weitermachen ja, aber mit weniger Stress und dem Recht und der Möglichkeit mal Nein! zum Scheißjob zu sagen. Und dann gibt es wiederum Leute, die sagen: Ich habe noch nie in meinem Leben darüber nachgedacht was ich eigentlich wollen könnte! Der nachwachsende Rohstoff des 21. Jahrhunderts ist die Kreativität und ihre große Gegenspielerin ist die chronische Existenzangst.

Ein Volk mit Grundeinkommen wäre gesünder, es gäbe weniger Richten, weniger Kontrolle, Verteilungspoker. Das würde die ganze Republik spüren. Auch der Multimillionär, jedes Kind, Frauen und Männer bekämen die gleichen Voraussetzungen, was 226 Jahre nach der französischen Revolution auch mal angesagt wäre, finde ich. Mir ist es nicht wurscht wie es in der Welt zugeht und ich denke mir, wenn man anfangen würde, “ Entwicklungshilfe“ an ein Grundeinkommen für die Bevölkerung zu knüpfen, statt sie auf Schweizer Konten von Despoten zu überweisen, würde es weniger Flucht geben. Und wir hier müssen entschleunigen können, um nachhaltige Strategien ausprobieren zu können. Wir brauchen alle mehr Zeit. Dieses hinter allem herhecheln müssen, verbraucht zu viele Ressourcen. Nachhaltigkeit, Ästhetik, Entschleunigung und Grundeinkommen, diese Verbindung interessiert mich, sie könnte nachwachsende Kräfte entfesseln, für eine Kulturgesellschaft, in der sich das Wissen und Können verflüssigt und so verbindet.

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Written by Nele Herzog

Nele Herzog arbeitet seit April bei anschlaege und hat ständig das Bedürfnis Alltagsgeschichten festzuhalten. Sie führt die Interviews.