Bewundernswert

Meine beste Idee war es, es als Lehrer am Gymnasium abzulehnen, Beamter zu werden. Um die Idee, die mich mit dem Leben verbindet – freie Meinungsäußerung und Hilfe für Menschen, denen es schlechter geht – weiter realisieren zu können, ohne dass mir irgendeine Autorität oder Institution von oben sagt, wo es lang zu gehen hat. Natürliche Autoritäten achte ich, aber angemaßte Autoritäten gehören entlarvt. Auch Jugendliche sind schon mächtig genug dagegen anzugehen, wenn man ihnen den Unterschied bewusst macht. Für ihre eigene Zukunft müssen sie sich selber auf die Hinterbeine stellen. Je mehr so denken, desto eher werden Menschenrechte – vom Privatleben bis in die Politik – aktiv verteidigt.

Es ist schon ein besonderer Akt, ein Flugticket nach Lesbos zu kaufen, um hier vor Ort Flüchtenden zu helfen, das könnte man schließlich genauso gut in Hamburg oder Berlin tun. Es gehört Mut dazu, seinen Alltag aufzugeben, um sich dieser unvorhersehbaren Situation auszusetzen. Freunde sagen mir oft, dass sie unsere Arbeit bewundern. Okay, aber im Alltag der Arbeit kommt man nicht auf die Idee, bewundert werden zu müssen, sondern man macht genau das, was notwendig ist. Wenn man da am Strand steht und Menschen in einem Boot ankommen, tut man genau das, was jeder Andere auch tun würde, denke ich. Und wer die Idee der Menschenrechte nicht zumindest als Begriff in sich trägt, der käme nicht hierher. Es geht bei dieser konkreten Hilfe nicht in erster Linie um große, politische Entscheidungen – wir kehren ja nur die Scherben dieser offensichtlich gescheiterten Politik zusammen – sondern den aus einer Kriegssituation flüchtenden Menschen, die hier auf Lesbos unter Lebensgefahr ankommen, eigenhändig zu helfen. Ich frage mich, was daran bewundernswert sein soll.

Meine Idee hier zu sein, ist wesentlich von meiner Lebensgeschichte geprägt. Ich war selbst Flüchtlingskind im 2. Weltkrieg. Auf unsere Berliner Wohnung fielen – wie heute auf Aleppo – Bomben und meine Mutter ist mit mir im Bauch und meiner Schwester an der Hand von Berlin nach Schlesien geflüchtet, hat sich dort auf einem Bauernhof versteckt, bis die rote Armee kam und alles wieder nach Westen floh. Wir hatten das Glück von einem Lastwagen mitgenommen zu werden, es waren starke Minusgrade, durch den Mantel eines Beifahrers war ich aber geschützt und so vor dem Erfrieren bewahrt. Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen den Kindern, die damals tot am Straßenrand lagen und denen, die heute bei der Flucht übers Meer erfrieren oder ertrinken. Die Idee der Menschenrechte bleibt in beiden Fällen auf der Strecke, dagegen müssen wir was tun, jeder in seinem Bereich und nach seinen Kräften!

Written by Nele Herzog

Nele Herzog arbeitet seit April bei anschlaege und hat ständig das Bedürfnis Alltagsgeschichten festzuhalten. Sie führt die Interviews.