Blinde Hingabe

Eigentlich wollte ich eine andere Performance ansehen, aber ich konnte sie nicht finden und fand stattdessen den Ort, an dem die allererste BuSSy-Performance stattfand. Also dachte ich mir gut, ich bin hier und habe keine anderen Pläne, warum nicht diese Performance angucken. Ich war davon sehr bewegt, weinte und wollte unbedingt Teil davon sein, meine Geschichte erzählen. Ich interviewte die Gründerin, welche eigentlich nur eine Performance geplant hatte. Im darauffolgenden Jahr schickte ich ihr Geschichten und sie lud mich ein, sie auf der Bühne zu erzählen. Ich arbeitete zunächst einige Jahre lang neben meinem Job als Journalistin nebenher mit. In 2011 passierte die Revolution und ich entschied mich, nicht mehr als Journalistin und nur noch für BuSSy zu arbeiten. Ich hielt nicht bewusst inne um diese Entscheidung zu treffen, sie war nicht logisch. Ich kann es nur so beschreiben: Ich weiß nicht viel, aber was ich weiß ist, dass ich morgens aufstehen und nichts Anderes als das machen muss. Es gab, gibt Geldsorgen, viele Leute, die mir vorwerfen, ich würde mein Leben verschwenden. Ich verdiente für eine sehr lange Zeit kein Geld und jonglierte nebenher mit Nebenjobs und freiberuflichen Arbeiten. Es schien verrückt etwas aufzugeben, mit dem ich bequem Geld verdient hatte. Manchmal ist Hingabe eben ziemlich blind. Es dauerte auch Jahre bis ich mich selbst als Theaterregisseurin identifizieren konnte. Am Anfang sagte ich immer, keine Ahnung was ich bin, aber guck dir an, was ich tue.

Wir arbeiten von Jahr zu Jahr anders. In allen Fällen versuchen wir einen Storytelling-Workshop abzuhalten, aber es kommt wirklich darauf an, wer die Teilnehmenden sind, wo wir sind, wie viel Zeit wir haben. Am Anfang teilten manche ihre eigenen, manche die Geschichten Anderer. Mit den Jahren realisierten wir, dass das einen großen Unterschied in der anschließenden Theatererfahrung macht. Menschen, die ihre eigenen Geschichten teilen, durchleben etwas komplett Anderes, als solche, die von Anderen reden. Also entschieden wir uns, uns auf die Geschichten von den Menschen in unseren Workshops zu konzentrieren. Manchmal gibt es viel Bewegung, manchmal keine. Heute zum Beispiel arbeitete ich mit einer Gruppe Frauen, die sich kaum bewegte. Wenn ich sie bitte, sich zum Dehnen im Kreis aufzustellen, ist es, als würde ich sie zwingen einen Marathon zu laufen. Diese Frauen bewegen sich üblicherweise nicht viel, tragen einschränkende Kleidung und fühlen sich nicht wohl in ihren Körpern. Es ist also nicht leicht für sie, sich raumfüllend zu bewegen.

Ein Theaterstück basiert normalerweise auf einer Geschichte. Aber wir spielen nicht Theater, wir sind die Geschichte. Wir führen nichts auf, wir halten Monologe, schauen den Zuschauern in die Augen und berichten direkt davon, was uns passiert ist. Manchmal gibt es Dialoge und Szenen, aber das wichtigste Format ist der Augenkontakt. Üblicherweise sind die geteilten Geschichten scham- und schmerzbehaftet, sie wurden so noch nie jemandem erzählt. Es ist schon sehr heilsam so etwas in kleiner Gruppe zu erleben, aber die Idee, des die Bühne und das Publikum mit der Geschichte einnehmen, gibt dir wirklich das Gefühl, als gehöre deine Geschichte, dieser Raum, um sie zu erzählen, dir. Obwohl du sie so lange für dich behalten hast und dachtest, sie würde niemanden interessieren, sind all diese Menschen dort, um dir zuzuhören, mit dir zu fühlen. Die Erfahrung des es ihnen schonungslos zu erzählen, ist sehr mächtig und stärkend. Die meisten Menschen weinen und kommen den Performenden mit Güte und Empathie entgegen, erzählen nachher sogar dass sie Ähnliches erlebt haben. In den Workshops sage ich den Teilnehmenden immer: Wartet nur, bis ihr erst auf der Bühne seid! Lasst alle wissen, wie viele Leute danach auf euch zukommen und euch von ihren Geschichten erzählen!

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Written by Nele Herzog

Nele Herzog arbeitet seit April bei anschlaege und hat ständig das Bedürfnis Alltagsgeschichten festzuhalten. Sie führt die Interviews.