Deinem Leben Inhalt geben

Ich war im Januar auf Lesbos und habe dort als Freiwillige gearbeitet. Währenddessen bin ich zum Rettungswesten-Friedhof gefahren, einem Ort auf der Insel, an dem alle Überbleibsel gesammelt werden. Es war unglaublich, so viele zurückgebliebene Schlauchboote und Rettungswesten zu sehen. Freiwillige sind mit Krisenmanagement und Helfen beschäftigt, aber sich nicht im Klaren darüber, wie viel Müll produziert wird. Nach dem jüngsten EU-Gesetzesbeschluss mussten alle Camps auf Lesbos schließen und die meisten Freiwilligen sind in den Norden Griechenlands gefahren. Das ist tragisch, denn obwohl es jetzt Aufräumaktionen gibt, bleibt viel Müll zurück. Ich dachte, wir sollten etwas aus den Resten machen, bin in die Camps gefahren und habe bemerkt, dass alle nach Taschen fragten. Der logische Schritt für mich war, meine Freundin Didi Aalsund anzurufen, sie ist Taschen- und Schuhmacherin und mit ihr zusammen eine Tasche zu designen, die aus einem Stück gefertigt wird. Wir bieten die Werkzeuge, Material und eine Bauanleitung, sodass jeder sich während eines einstündigen Workshops selbst Eine machen kann.

Gerade lese ich ein Buch von einem irakischen Geflüchteten, der in den Niederlanden 11 Jahre in einem Zentrum für Asylsuchende warten musste. Es ist traurig zu wissen, dass der Asylprozess in den Niederlanden so furchtbar lang ist, dass er vom Menschsein entfernt. Du bekommst Essen und ein Dach über dem Kopf, du darfst praktisch leben, aber der Prozess des Wartens ist furchtbar. Um sich menschlich zu fühlen, willst du doch deinem Sein Inhalt geben können, wissen, dass du etwas ausrichten, einen Unterschied machen kannst.

Im Sommer fahren wir nach Griechenland, um dort fünf Monate lang in Camps weitere Workshops zu veranstalten. Wir denken auch über Wege nach, andere Materialien zu verwenden, denn im Sommer wird es in Idomeni wahrscheinlich viele zurückgelassene Zelte geben. Wir werden die Arbeit dort dokumentieren, darüber bloggen und so versuchen die Medienöffentlichkeit, die wir jetzt haben, zu nutzen. Wir verbinden das Projekt aber auch zurück nach Amsterdam, entwickeln die Workshops und das Design dort mit Geflüchteten gemeinsam weiter. Wahrscheinlich wird das Projekt auch den Weg in Galerien finden. Wir wurden sogar von den Dutch Design Awards gescoutet. Das ist interessant, denn obwohl es die gleiche Tasche bleibt, hat sie in einer anderen Welt einen anderen Wert. Die Tasche wird zu etwas komplett Anderem, wenn wir sie in einer Galerie zeigen, wir müssen also gut darüber nachdenken, wie wir sie präsentieren. Was ist die Geschichte dahinter? Warum in diesem Kontext? Ist es Kunst? Und wem gehört diese Kunst?

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Written by Nele Herzog

Nele Herzog arbeitet seit April bei anschlaege und hat ständig das Bedürfnis Alltagsgeschichten festzuhalten. Sie führt die Interviews.